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Zeit zum Durchatmen

von Werner Kälin

Der menschliche Alltag besteht aus Kommunikation – schon immer und heute durch unzählige Kanäle im Überfluss. Kurz nach dem Aufstehen geht’s los mit dem Blick auf’s Handy, bei Arbeitsbeginn mit dem Öffnen des E-Mail-Programms. Egal, auf welchem Weg Menschen Nachrichten empfangen oder senden: Zentral ist, wie sie dabei atmen.

«Es ist das fundamentalste Verlangen aller Lebewesen: einatmen und ausatmen.» Diese ersten Worte einer ZDF-Dokumentation hören sich zwar selbstverständlich an, sind aber auch eine Herausforderung für den Menschen im Alltag. Der Film von Sandra Klösges ist noch bis am 16. Dezember auf ARTE online zu sehen. Aus ihm lässt sich einiges an Tipps und Wissen für den modernen Arbeitsalltag herausholen – und für mehr Entspannung in der Kommunikation.

Jahrtausendealtes System trifft auf junge Technologie

Vielleicht kennen Sie es: Sie öffnen das E-Mail-Programm; immer mehr Nachrichten trudeln ein; allein die Menge ist alarmierend, geschweige denn der Inhalt. Sie spielen die ersten Bälle schnell zurück. Beim Schreiben halten sie den Atem an, ziehen die Schultern hoch. Das Atmen konzentriert sich auf den Brustbereich, im Bauch geht schnell mal gar nichts mehr. Zur flachen Atmung kommen schon vor der ersten Pause Anzeichen von Verspannungen dazu.

Woher kommt das? Der E-Mail-Account sei sowas wie der Säbelzahntiger in der Steinzeit, sagt Psychotherapeut Thomas Loew im Film. Menschen reagieren körperlich auf schlechte Nachrichten wie bei einer realen Gefahr. Das heisst: Atem anhalten und Muskeln anspannen – vielleicht muss man ja wegrennen oder kämpfen. Forscher nennen das Phänomen E-Mail-Apnoe.

Mit immer noch mehr Nachrichten auf weiteren Geräten zu weiteren Themen wird der Stress noch vor dem Mittag perfekt – seine Begleiter sind zum Beispiel Kurzatmigkeit, Herzrasen, Bluthochdruck, Schmerzen, Angstgefühle. Mit dem gleichen System reagiert der Körper übrigens auch auf Lärm – das Wort stammt aus dem Italienischen all’arme und bedeutet «zu den Waffen!».

Natürlicher Mechanismus beeinflusst jegliche Kommunikation

Der Daueralarm führt auch zu Verspannungen in der Kommunikation mit Geschäftspartner*innen, Kolleg*innen, Freund*innen oder Familienmitgliedern – und sowieso mit lauter Unbekannten in den Kommentarspalten auf Social Media, im Auto vorne und hinten oder im Zugabteil vis-à-vis. Im Laufe des Tages kommt also einiges zusammen, mit dem man zu kämpfen hat – oder eben, bei dem man flach atmet und die Muskeln anspannt.

Der menschliche Organismus braucht aber genug Sauerstoff. Deshalb fliessen jeden Tag bis zu 15’000 Liter Luft durch die Lunge. Sie ist die wichtigste Schnittstelle zwischen der Innen- und der Aussenwelt. In einer Zeit, in der ausgerechnet die Atemluft selbst als Gefahr auftritt, verwundert es nicht, dass die Kommunikation erschwert bis unmöglich, auf jeden Fall aber kompliziert ist. Doch atemlos würde selbst Helene Fischer nicht lange singen.

Mein Tipp deshalb zum Feierabend: Machen Sie es sich gemütlich und schauen Sie sich den Film «Atmen – ein erlernter Mechanismus» an. Er ist auch auf YouTube zu finden. Nehmen Sie das Erfahrene mit in den Alltag und erzählen Sie Ihrem Umfeld davon – zum Beispiel beim nächsten Online-Call oder Familientreffen.

Weniger als vier Minuten La Bambele von Müslüm.

Weitere Tipps zur bewussten Atmung der TCM-Gynäkologie-Expertin Brigitte Weber, die auch für Männer nützlich sind.

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