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Digital Detox – oder die Mär vom Methadon

von Andy Roth

Sich vorübergehend zu befreien von der Sucht, stets mit elektronischen Geräten online zu sein, ist eine zeitgemässe Methode, um Stress zu reduzieren. Ein Stress, der durch die ständige Verbundenheit mit dem Netz und dem insgeheimen Wunsch nach der nächsten Notification, dem nächsten Like oder wenigstens dem nächsten Newsletter-Mail entsteht: Always on – highly alert.

Die Angst, etwas zu verpassen (FOMO), kennen die Millennials bestens. Für die Aufmerksamkeitsökonomie auf mehreren Plattformen gleichzeitig brauchen sie kaum eine Content-Strategie – das läuft alles sehr intuitiv, das Bespielen von Social Media oder Statements in Messenger-Gruppen. Aber wehe, man verpasst im algorithmusgesteuerten Newsfeed einen Post oder ein wichtiges Update aus der Community.

Den grossen Tech-Unternehmen wie Facebook, Amazon, Apple, Netflix und Google wird schon lange unterstellt, dass sie uns durch raffinierte Tricks von ihnen abhängig – ja, sogar süchtig – machen. Klar, die Anbieter wollen uns möglichst lange auf ihren Plattformen wissen. Während dieser Zeit hinterlassen wir Daten, konsumieren Werbung und bestellen Waren.

Das Methadon im Betriebssystem

Nun stellen uns genau diese Anbieter das Methadon gleich selbst zur Verfügung. Apple hat mit dem iOS 12-Update neu die Bildschirmzeit – eine Funktion, um das eigene Nutzungsverhalten zu analysieren und den Zugriff auf Apps zeitlich einzuschränken – ausgerollt. Als Sperre mag das für Eltern hilfreich sein, ihre Kinder zu schützen. Das Bewusstsein für einen sinnvollen Umgang mit den Geräten bringt das noch nicht. Im Gegenteil: Die Analysen verleiten dazu, noch mehr Erkenntnisse über den eigenen Konsum zu gewinnen – am Gerät selbst versteht sich. WhatsApp wird ab 2019 nicht nur Werbung einblenden, sondern entwickelt auch einen Ferienmodus. Das hilft, wenn man nicht ständig Benachrichtigungen und Mitteilungen aus Gruppen erhalten möchte, die man «aus Gründen» nicht verlassen kann. Und ab Android 9 wird auch Google die wohlklingende Funktion Wellbeing einführen, die auf einem Dashboard das eigene Nutzerverhalten ausweist. Damit lassen sich ebenfalls Benachrichtigungen nach einem Zeitplan einschränken, die Nutzung von Apps unterbinden. Und beim nächtlichen «binge watching» auf youtube erinnert die Funktion daran, dass man unterdessen doch schon zwei Stunden Katzenvideos schaut. Im Entspannungsmodus wird der Bildschirm-Inhalt automatisch auf Graustufen ausgegeben.

Einfach mal weglegen

Ob uns die Funktionen von Apple, Facebook und Google tatsächlich helfen, bewusster mit den Geräten umzugehen, darf bezweifelt werden. Der Nikotin-Kaugummi bringt uns auch nicht weg vom Suchtmittel. Schon lange war es möglich, direkt im Betriebssystem die Benachrichtigung von einzelnen Apps zu steuern, oft sogar nach einem definierten Zeitschema. Die meisten Apps haben ähnliche Funktionen in den Einstellungen. Dazu muss man sich allerdings Zeit nehmen – um diese später wieder zu gewinnen.

Das Einfachste ist und bleibt der Power-Knopf: Das Gerät komplett ausschalten, um die eigenen Batterien aufzuladen. So einfach geht das.


Es ist immer wieder beeindruckend, wieviele Daten pro Sekunde generiert werden. (The Internet in Real-Time, http://visual.ly)

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